Das Urteil des Paris ist ein Stoff aus Homers Ilias, der in der europäischen Malerei seit dem Mittelalter häufig bearbeitet wurde. Drei Göttinnen streiten um einen ihnen zugefallenen goldenen Apfel mit der Aufschrift „Der Schönsten“. Zeus überträgt dem trojanischen Königssohn Paris die Entscheidung, welche der Göttinnen den Apfel bekommen soll: Athena, Aphrodite oder Hera. Hera verspricht ihm nicht weniger als die Weltherrschaft, Athena Weisheit und die von Paris schliesslich auserwählte Aphrodite die Liebe der schönsten Frau der Welt, Helena. Hubert Damisch widmete dem Motiv und seiner Geschichte in der europäischen Malerei 1992 ein Buch, in dem er auch auf das Gemälde Das Urteil des Paris (um 1519) von Niklaus Manuel zu sprechen kommt.1 Auch die Ausstellungsmacherin Judith Clark, die 2011 in London in der Fashion Space Gallery des College of Fashion eine kleine Ausstellung kuratierte, der sie den Titel The Judgement of Paris II gab, interessiert sich für die Attribute und Requisiten, mit denen Manuel in seiner Fassung des Bildes die drei Göttinnen auszeichnete, um sie kenntlich zu machen. Im Jahr zuvor hatte sie das Kunstmuseum Basel besucht, in dessen Sammlung sich neben dem Gemälde von Manuel auch ein etwas späteres Parisurteil von Lucas Cranach befindet. Es sind nicht die individuellen Gesichtszüge und auch nicht die Körper der Figuren, an denen die Göttinnen zu erkennen wären, sondern ihre jeweilige Position und Ausrichtung im Bild, vor allem aber die Attribute, wie sie aus der Mythologie überliefert sind, nämlich Kleidung und Haarschmuck sowie die spezifischen Gegenstände, die sie mit sich führen. Niklaus Manuel bezeichnet die drei Göttinnen auf seinem Gemälde mit ihren römischen Namen: Minerva, Venus und Juno. Minerva hält in der einen Hand ein Schwert und in der anderen einen Drachenkopf, hat ein Schild umgehängt und trägt einen Kopfschmuck aus Straussenfedern. Venus wird von ihrem geflügelten Sohn Cupido begleitet. Sie steht vor Paris, blickt ihn an, trägt einen ebenfalls mit Flügeln versehenen Kopfschmuck und über dem nackten Körper ein leichtes, durchsichtiges, vom Luftzug geblähtes Kleid. Bleibt Juno, die Manuel als verheiratete Frau darstellt, in einem mit Brokat und Hermelin besetzten, kostbaren langen Gewand im Stil seiner Zeit. Als Kuratorin, die sich mit Kleidung und Mode auseinandersetzt, beschäftigt Judith Clark die Frage, welche Rolle Bildformeln der Kunst für die Mode haben könnten. Die erwähnte Ausstellung in London umfasste drei von ihr entworfene Vitrinen. In einer zeigte sie Nachbildungen der aus der Kunstgeschichte bekannten Attribute und Requisiten der besagten Göttinnen (wie Schild, Cupido und Pfau), die ein Requisitenverleih für die Dauer der Ausstellung zur Verfügung stellte, in einer zweiten befanden sich drei weibliche, mit weisser Baumwolle (Kattun) überzogene, lebensgrosse Schneiderbüsten, und in der dritten thematisierte sie Frisuren und Kopfschmuck. Damit griff Clark treffsicher drei zentrale Aspekte des Gemäldes heraus. Nicht von ungefähr fühlt sie sich von Manuels Arbeit angesprochen. Die zeittypische Mode aktualisiert die antike Erzählung, das verwegene und reizvolle Spiel mit Verhüllung und Enthüllung lädt das Gemälde erotisch auf, und das im Unterschied zu den Körpern wild bewegte Haar aktiviert den Bildplan und erschliesst dem Auge den dunklen Grund.

I

Das Urteil des Paris, um 1519 von dem Berner Ratsherrn, Reformator, Dichter und Maler Niklaus Manuel (um 1484–1530) geschaffen, stammt aus dem Kabinett des Basler Juristen und Kunstsammlers Basilius Amerbach (1533–1591), in dessen Sammlungsinventaren der Jahre 1577/78 bis 1587 das Gemälde aufgeführt ist.2 Erworben hatte er es zusammen mit zwei weiteren Leinwänden – Pyramus und Thisbe (um 1515) und ein Votivbild der Hl. Anna Selbdritt (um 1517) –, einigen kleinen Holztafeln sowie Zeichnungen und Holzschnitten vermutlich von der Familie des Künstlers aus dessen Nachlass. Im Jahr 1661 übernahm die Stadt Basel den Kunstbesitz Amerbachs als Kernbestand ihrer öffentlichen Sammlung.

Über die Herkunft Manuels ist wenig bekannt. Die Familie des Vaters Emanuel Alleman betrieb in Bern eine Apotheke. Der Grossvater mütterlicherseits war der Berner Stadt- und Gerichtsschreiber Thüring Fricker. 1509 heiratete Niklaus Manuel. Die Verbindung mit Katharina Frisching, deren Vater dem Kleinen Rat der Stadt Bern angehörte, festigte seine gesellschaftliche Stellung. Manuel gehörte nun einer Familie der Berner Oberschicht an, mit entsprechenden Privilegien und Verpflichtungen.3 Er wurde zunächst Mitglied des Grossen Rates und gehörte ab 1528 dem Kleinen Rat an. Ab 1520 trat in seinem künstlerischen Schaffen mehr und mehr das Wort an die Stelle des Bildes. Michael Egli, der Herausgeber des 2016 abgeschlossenen Werkkatalogs von Niklaus Manuel, hält es für möglich, dass die sich ankündigende Reformation und das Ausbleiben kirchlicher Aufträge für seine allmähliche Abwendung von der Malerei ausschlaggebend waren.4 Zu Lebzeiten vermochte Manuel als Künstler keine Ausstrahlung über seinen Wirkungsort Bern hinaus zu entfalten. Der Katalog des erhaltenen gemalten Werks umfasst nicht mehr als 19 Nummern, entstanden binnen weniger Jahre, ungefähr zwischen 1513 und 1520. Im Jahr 1522 nahm Manuel in Oberitalien als französischer Söldner mit bernischen Verbänden an der Schlacht von Bicocca teil. Ab 1523 amtete er als Landvogt von Erlach und lebte mit seiner Familie bis 1528 auf Schloss Erlach. In jenem Jahr entschied sich Bern für die Reformation, was vom Ratsherrn Manuel unterstützt wurde. Sein Nachleben als Maler verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass die von Basilius Amerbach zusammengetragene Sammlung seiner Werke nicht aufgelöst wurde, sondern im Kunstmuseum Basel bis heute erhalten, erforscht und vermittelt wird.Niklaus Manuel, nach dem Vaternamen genannt „Deutsch“, kann als bedeutendster Maler der frühen Neuzeit seiner Heimatstadt Bern gelten. 1991 schrieb der Ausstellungsmacher Harald Szeemann in der ihm eigenen Diktion über Manuels Johannes-Enthauptung und schilderte seine Faszination für die „persönliche Mythenbildung durch Befreiung der Symbole und Zeichen aus ihrem religiösen Kontext“.5 Das Werk ist in zwei Fassungen überliefert, einer Altartafel im Kunstmuseum Bern und einer zwar kleinformatigen, künstlerisch aber weitaus experimentelleren und eigenständigeren Holztafel im Kunstmuseum Basel, ebenfalls aus dem Bestand von Basilius Amerbach. In dieser kleinen Arbeit, so beobachtet Michael Egli, manifestiert sich „ein im Wandel begriffenes Bildverständnis Manuels, das durch das dialektische Verhältnis zwischen religiös-kultischem und künstlerischem Bild bestimmt wird“.6  Mit anderen Worten, Niklaus Manuel arbeitete auf der Schwelle zum „Zeitalter der Kunst“, das mit der Renaissance beginnt und der Kunst neue Aufgaben überträgt.7  Zuvor wurden Kunstwerke nicht in erster Linie für die Betrachtung als Kunst, sondern zur religiösen Erbauung oder für den kirchlichen Kultus geschaffen. Von dieser Epoche an jedoch kann von einer Entwicklungsgeschichte der Kunst gesprochen werden, beruhend auf einem neuen Selbstverständnis der Künstler, nach dem jedem Einzelnen eine bestimmende Rolle als Schöpfer künstlerischer Werke zusteht.

II

Die Moderne hat uns gelehrt, dass der Faden der Geschichte reissen kann. Bilder werden unverständlich, weil die ihnen zugrunde liegenden Programme, Methoden und Zielsetzungen keine Relevanz mehr für die Gegenwart haben, oder sie werden aus dem Kanon ausgeschlossen, weil ihr Fortleben und ihre Aktualisierung nicht mehr erwünscht sind und deshalb bewusst unterbunden werden sollen. Welche Bedeutung können Bildwerke haben, wenn die Kultur, aus der sie hervorgegangen sind, verblasst ist oder uns fremd erscheint? Ist es möglich, ein Werk der Kunst wahrzunehmen und mit ihm in einen Dialog zu treten, ohne, wie es heute so oft der Fall ist, seinen Entstehungszusammenhang zu kennen, der nach Auffassung von Richard Wollheim für die Identität eines Werks bestimmend ist?8  Können spätere Entwicklungen in der Kunst Auswirkungen auf die Wahrnehmung älterer Werke haben? Selbstverständlich. Verändert dies ihre Identität? Nein. Kunstwerke zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie als Artefakt sowohl unmittelbar zu ihrer eigenen Zeit gehören als auch ein Nachleben haben können. Menschen spielen für die Übertragung von Bildern von einer Generation zur nächsten eine wichtige Rolle: „Als Stifter und Erben der Bilder sind sie in dynamische Prozesse eingebunden“, schreibt der Kunsthistoriker Hans Belting, „in welchen ihre Bilder verwandelt, vergessen, wieder entdeckt und umgedeutet werden. Übertragung und Nachleben ähneln den zwei Seiten einer Münze. Übertragung ist intentional und bewußt, sie kann offizielle Leitbilder wie die Antike in der Renaissance zu Modellen einer Reorientierung machen. Das Weiterleben aber kann auf versteckten Wegen und sogar gegen den Willen einer Kultur geschehen, die sich in anderen Bildern eingerichtet hat.“ Bilder und Kunst gehören unterschiedlichen Ordnungen an, obschon sie häufig gemeinsam auftreten. Im Unterschied zum Bild, das sich als visuelle Vorstellung im Menschen manifestieren kann und dabei für andere unsichtbar bleibt, ist das Kunstwerk ein physisches Objekt und zugleich ästhetischer Gegenstand. Es wird von Menschen für die Wahrnehmung durch andere Menschen geschaffen. Nur der Mensch macht Kunst: „Ich kenne Geschichten von malenden Elefanten, zeichnenden Affen und Maschine schreibenden Hunden“, so die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt, „doch trotz der Komplexität der Dickhäuter-, Affen- und Hundekulturen spielt die bildende Kunst in keiner von ihnen eine zentrale Rolle. An einem bestimmten Punkt in der Evolutionsgeschichte begannen menschliche Gesellschaften Dinge zu zeichnen und zu malen, und man kann mit Sicherheit behaupten, dass der Akt des Machens eines Bildes nur möglich ist, weil wir die Fähigkeit eines reflexiven Bewusstseins haben, weil wir also imstande sind, uns selbst darzustellen und über unser eigenes Wesen nachzudenken, indem wir in unseren eigenen Augen zu Objekten werden.“10

III

In Rom aufgewachsen, studierte Judith Clark Architektur an der Bartlett School of Architecture sowie der Architectural Association in London. 1997 eröffnete sie in London die erste unabhängige Galerie, Judith Clark Costume, die ausschliesslich Kleidung ausstellte, und begann 2002 am London College of Fashion zu lehren.11  2014 nahm sie ihr Studium der Kunstgeschichte am Warburg Institute in London auf, einerseits wegen ihres wachsenden Interesses an den Requisiten und Attributen in der Kunst der Renaissance, die sie in ihren Ausstellungen thematisiert, und andererseits aufgrund der dort nach wie vor gelehrten Methode Warburgs, Kulturgeschichte darzustellen und die Migration von Formen und Ideen durch die Zeiten zu dokumentieren. Für Warburg war ein Kunstwerk nicht nur Ausdruck künstlerischen Talents und schöpferischer Kraft, sondern zugleich auch das Medium, in dem sich Bilder wie „Geister“, ohne äusseren Einfluss, zeigen konnten. Warburg war Bildhistoriker. Er interessierte sich für jene Prozesse der Transformation, denen Bilder nicht nur unterliegen, sondern die von ihnen auch in Gang gehalten werden. Den Begriff „Pathosformel“, der in diesem Zusammenhang Verwendung findet, prägte er 1905 für eine, wie es John M. Krois treffend erläutert, sich laufend erneuernde „bildliche Darstellungsform von einem gesteigerten Gefühlsausdruck“.12  Mit Niklaus Manuel und dessen Fassung vom Urteil des Paris scheint sich Warburg nie näher befasst zu haben, obschon das Motiv und dessen Transformation durch die Jahrhunderte ihn faszinierte. 1929 widmete er einen seiner wenigen ausgearbeiteten Texte dem Schaffen des französischen Malers Édouard Manet und zeigt dabei auf Tafel 3 seiner Bilderreihen, die für seinen unvollendet hinterlassenen Mnemosyne-Atlas bestimmt waren, dass sich Manet in Déjeuner sur l’herbe (1863) auf einen Kupferstich von Marcantonio Raimondi nach einer nicht erhaltenen Zeichnung Raffaels mit dem Urteil des Paris bezieht.13

2016 hörte ich am Warburg Institute, in dessen Archiv ich damals mit einem Forschungsvorhaben zu Warburg als Ausstellungsmacher befasst war, einen Vortrag von Judith Clark, seither blieben wir nicht nur im Austausch, sondern haben auch eine Ausstellung und 2020, als Beitrag zum Symposium Fashion Interpretations: Dress, Medium & Meaning der London University, gemeinsam einen Film produziert. Die Ausstellung Niklaus Manuel Deutsch ausstellen: Das Urteil des Paris II fand 2018 in der Berggemeinde Amden am Walensee in einem von mir seit 1999 bespielten Raum statt. Es sind dort meist für den Ort geschaffene Werke zu sehen.14  Zu dessen Konzeption gehörte es von Anfang an, die Landschaft, in der die nur zu Fuss erreichbaren Ausstellungen stattfinden, in die Programmierung einzubeziehen. Eingerichtet werden die Ausstellungen in einem anfangs während der Wintermonate noch für die Unterbringung von Rindern landwirtschaftlich verwendeten, inzwischen aber schon lange leerstehenden, das Landschaftsbild am Amdener Berg prägenden Weidgaden, der während all der Jahre weder gereinigt noch umgebaut und somit im eigentlichen Sinne auch nie umgenutzt worden ist. Erstmals in der Geschichte des Atelier Amden wurde mit Niklaus Manuel Deutsch ausstellen eine Ausstellung nicht von einer Künstlerin oder einem Künstler erarbeitet. Als sich Clark in Hinblick auf dieses Projekt erneut mit dem Gemälde Manuels und anhand von Publikationen aus der Bibliothek des Warburg Institute vertieft mit dessen Werk, insbesondere den Zeichnungen, auseinandersetzte, verlagerte sich ihr Interesse vom antiken Stoff auf die Frage, wie die Figuren in den dargestellten Naturraum eingebettet sind und welche Art von Beziehung visuell zwischen den Figuren und ihrer Umgebung besteht. Eine besondere Rolle kommt dabei dem langen, lockigen und trotz der Frisuren und des Kopfputzes ungebändigten Haar der Göttinnen zu. Die Intervention bestand schliesslich in zwölf geschmiedeten Nägeln, die in ihrer Form Silberstiftzeichnungen Niklaus Manuels von einzelnen Locken zum Vorbild hatten. Diese geschmiedeten Haare ergänzen seither die vorhandenen, zum Teil sehr alten Nägel, die – aus welchen Gründen auch immer und ohne erkennbare Funktion – in den Balken des Weidgadens stecken, ein für landwirtschaftliche Zweckbauten typisches Attribut. Im Inneren versah Clark den Holzbau mit einem Brandzeichen, das einen sich putzenden Bären zeigt, kopiert nach einer Zeichnung Manuels aus einem seiner Musterbücher. Ein Plakat mit einem farbigen Bildausschnitt von Manuels Chef d’Œuvre ergänzte die wenigen Elemente der Installation. Judith Clark stellte in Amden keine autonomen künstlerischen Werke aus, sondern sie zeigte den verlassenen Weidgaden als Skulptur – mit Duchamp zu sprechen, ein „assistiertes“ Readymade – und zugleich als das, was er immer schon war: ein einfaches, gezimmertes Haus für Tiere, Götter und wilde Energien.

IV

In einem späten Interview erinnert der US-amerikanische Bildhauer Richard Serra, der für sich in Anspruch nimmt, mit seinen Skulpturen für den öffentlichen Raum ein neues Kapitel der Kunstgeschichte geschrieben zu haben, an den Kunsthistoriker George Kubler und dessen in The Shape of Time (1962) dargelegte Auffassung von Zeit und Geschichte.15  In enger Anlehnung an dessen Theorien beschreibt und lokalisiert der Künstler in seinem eigenen Schaffen Arbeiten, die er mit einem Begriff Kublers als „prime objects“ bezeichnet, und erläutert den Unterschied zu den vielen Repliken, die als Sequenzen den Kanon der Kunstgeschichte und das Gros der zeitgenössischen Kunstproduktion bilden.16  Primäre Objekte faszinieren Serra, weil sie die Kunst auf überraschende Weise grundsätzlich erneuern, ohne zwangsläufig eine neue Form der Überlieferung zu begründen. Sie „ähneln den Primzahlen aus der Mathematik“, heisst es bei Kubler, „denn auch für sie ist keine schlüssige Regel bekannt, nach der sich ihr Auftreten bestimmen ließe, obwohl eines Tages eine solche Regel gefunden werden kann. Beide Phänomene entziehen sich bis jetzt jeder Regelmäßigkeit. Primzahlen haben als Divisor nur sich selbst und eins; primäre Objekte widersetzen sich ebenfalls der Zerlegung, da sie ursprüngliche Ganzheiten sind. Ihre Eigenschaft des Primären erklärt sich nicht durch ihre Vorgänger, und ihre historische Einordnung ist rätselhaft.“17  1982 stellte Gottfried Boehm in seiner Einleitung zur deutschen Erstausgabe von Kublers Schrift fest, die Bedeutung der Publikation liege nicht zuletzt darin, dass mit Kublers Ansatz „die Kunstgeschichte jedenfalls von Kunst reden kann (der Geschichte der Dinge), daß sie ihre Phänomene ernst nimmt und ihnen eine eigene Historie, nicht identisch mit der allgemeinen Geschichte, überhaupt zutrauen darf“.18

Während Niklaus Manuels Urteil des Paris zusammen mit den weiteren Arbeiten, die in Damischs Buch zu diesem Motiv besprochen werden und die zum Teil auch Warburg in seinen Bilderreihen erfasste, eine Sequenz innerhalb der Kunstgeschichte bildet, die bis zur griechischen Vasenmalerei zurückverfolgt werden kann und mit Manet bis an die Schwelle zur Moderne reicht, scheint dies für Judith Clarks zweite Fassung des Themas nicht zu gelten. Zwar bezieht sie sich mit dem Urteil des Paris von Niklaus Manuel in ihrer Installation auf eine Arbeit aus dem Kanon, doch werden dabei gerade nicht jene Aspekte betont, die für eine Lesbarkeit innerhalb der Sequenz erforderlich wären. Hatte sie sich 2011 in der Präsentation im London College of Fashion noch auf Attribute und Requisiten beschränkt, die unverzichtbar sind, um die Göttinnen zu identifizieren, unterbrach sie die Sequenz mit ihrer Installation Niklaus Manuel Deutsch ausstellen: Das Urteil des Paris II in Amden. Indem sie ihr Augenmerk auf den dargestellten Naturraum und die Art der Interaktion der im Vordergrund, in grellem Licht angeordneten Figuren mit der in ein nächtliches Licht getauchten Umgebung richtete und nicht, wie von der Bildtradition vorgegeben, auf die Beziehungen der Figuren untereinander, hat sie das Gemälde als ästhetischen Gegenstand neu erfahren und erschlossen. Die Wahrnehmung der Malerei als visuelles Ereignis, nicht die Lektüre des Bildes, ermöglichte ihr den Entwurf einer eigenen Arbeit, die alle Eigenschaften eines primären Objekts hat.

Erstveröffentlichung in: Roman Kurzmeyer, Doppelte Artikulation. Schriften zur neueren Kunst II, Zürich / Berlin / Boston 2022, S. 25–38.

  1. Hubert Damisch, Le Jugement de Pâris. Iconologie analytique I, Paris 1992, S. 154f.
  2. Michael Egli/Hans Christoph von Tavel (Hg.), Niklaus Manuel. Catalogue raisonné, 2 Bde., Basel 2017.
  3. Petra Barton Sigrist, „Biografie“, in: Ebd., S. 80f.
  4. Michael Egli, „Niklaus Manuel – sein Œuvre im Wandel der Zeit“, in: Ebd., S. 12–34.
  5. Harald Szeemann, „Visionäre Schweiz“, in: Visionäre Schweiz, hg. von Harald Szeemann, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich; Städtische Kunsthalle und Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, Aarau 1991, S. 9.
  6. Michael Egli, „Enthauptung Johannes des Täufers“, in: Egli/von Tavel 2017 (wie Anm. 2), S. 147f.
  7. Arthur C. Danto, Das Fortleben der Kunst, München 2000 (= Bild und Text), v. a. S. 23–42.
  8. Richard Wollheim, „Sind die Identitätskriterien, die in den verschiedenen Künsten für ein Kunstwerk gelten, ästhetisch relevant?“, in: Reinold Schmücker (Hg.), Identität und Existenz. Studien zur Ontologie der Kunst, Paderborn 2003, S. 81.
  9. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 59.
  10. Siri Hustvedt, Mit dem Körper sehen: Was bedeutet es, ein Kunstwerk zu betrachten?, Berlin/München 2010 (= Internationale Schelling-Vorlesung an der Akademie der Bildenden Künste München, 3), S. 17.
  11. Judith Clark und Amy de la Haye, Exhibiting Fashion: Before and After 1971, New Haven/London 2014.
  12. John M. Krois, „Die Universalität der Pathosformeln. Der Leib als Symbolmedium“, in: Horst Bredekamp und Marion Lauschke (Hg.), Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, Berlin 2011, S. 76.
  13. Aby Warburg, „Manet“, in: Aby Warburg. Bilderreihen und Ausstellungen, hg. von Uwe Fleckner und Isabella Woldt, Berlin 2012, S. 367–386.
  14. Roman Kurzmeyer, Atelier Amden: 1999–2015, Zürich u. a. 2015.
  15. George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt a. M. 1982.
  16. Richard Serra und Hal Foster, Conversations about Sculpture, New Haven/London 2018, S. 91–111.
  17. Kubler 1982 (wie Anm. 15), S. 79.
  18. Gottfried Boehm, „Kunst versus Geschichte: ein unerledigtes Problem. Zur Einleitung in George Kublers ,Die Form der Zeit‘“, in: Ebd., S. 20.

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