Mai-Thu Perret gehört zu einer jungen Generation von Künstlerinnen und Künstlern in der Schweiz, welche an der Rekontextualisierung moderner Fragestellungen arbeitet. Olivier Mosset, Niele Toroni, Helmut Federle und John M Armleder sind neben vielen weiteren Künstlern diesen Weg in den 1970er-Jahren schon einmal gegangen und haben dabei ihre eigene Form der Abstraktion gefunden. 1987 sagte Armleder, er „mache nichts anderes als das, was andere schon einmal gemacht haben“.1  Durch Wiederholung schreibt er sich bewusst in die Geschichte der Formen ein, darin ist ihm Perret ähnlich. Armleder, der als junger Künstler mit Fluxus in Berührung kam und diesen Zugang zur Kunst bis heute lebendig hält, beruft sich in seinem Werk auf die Sprache der historischen Abstraktion, zugleich aber auch auf Francis Picabia, der, durch den Dadaismus geprägt, in seinem malerischen Werk einen spielerischen, tabulosen Umgang mit der Moderne und ihren Ausdrucksformen übte und dadurch gewissermassen wie ein früheres Alter Ego des Künstlers erscheint.

Seit einigen Jahren schreibt Perret an einer Erzählung über eine von Beatrice Mandell gegründete Frauenkommune in der Wüste von New Mexico, und zugleich entwirft sie mit diesem Text ein Programm für das eigene künstlerische Schaffen.2  Ihre Ausstellungen nehmen somit Bezug auf eine realisierte Utopie, die eine Fiktion ist. „Texte und Kunstwerke“, schreibt Diedrich Diederichsen, sind „in gleicher Weise real“ in Bezug auf die Geschichte dieser Kommune.3 Vor allem aber zeige Perrets Thematisierung der Kommune in New Ponderosa, „dass das historische Problem eher in einem Zuwenig als in einem Zuviel an Utopie bestanden habe. Den Utopistinnen des 20. Jahrhunderts hätte es demzufolge eher an der Anregung der je anderen Utopistinnen gefehlt, als dass sie selbst zu wenig Realitätssinn besessen hätten.“4  In ihrem Text The Crystal Frontier erzählt Perret „von den Träumen der Kommune, die den menschlichen Willen zur Produktion nicht den präskriptiven und repressiven Einengungen von Kapitalismus oder Patriarchat ausliefern will, und von den Schwierigkeiten bei ihren Bemühungen, sich durch Tierhaltung ein Auskommen zu sichern (woran auch die pure Romantik von Mandells Wahl der Wüste als Ort für ihr Experiment ersichtlich wird, als hätte sich keine fruchtbarere Landschaft finden lassen), davon, wie die Kommune zum Teil zum Markt Zuflucht nimmt, um das wirtschaftliche Defizit abzudecken (die Produktion von Keramiken und anderem Kunsthandwerk zum Verkauf auf Märkten in der Region), und von ihren abendlichen Gruppendiskussionen. In dieser kommunistischen Gemeinschaft betreibt jede Frau Landwirtschaft, Kunsthandwerk und Kritik, ohne aber Bäuerin, Kunsthandwerkerin oder Kritikerin als solche zu sein.“5

Kürzlich sass ich mit Künstlern zu Tisch. Wir sprachen nicht über Wein, sondern über die junge Kunst aus der Schweiz. Hans Witschi nannte seine jungen Kolleginnen und Kollegen lächelnd „embedded artists“. Eingebunden ins Netzwerk der Kunstwelt, gut ausgebildet und auf den Markt ausgerichtet, würden diese Künstlerinnen und Künstler zu Chronisten ihrer Epoche. Zu dieser Künstlergeneration zählt auch Mai-Thu Perret. 1994–1997 studierte sie Englische Literatur in Cambridge, danach absolvierte sie 2002/03 in New York das Whitney Independent Study Program. Ihr Werk entfaltet sich nach dem Ende des Kalten Krieges, im Jahrzehnt nach 9/11, in einer Zeit sich vervielfachender politischer, wirtschaftlicher und kriegerischer Konflikte, die auch den Wohlstand und den sozialen Frieden in den sozialen Marktwirtschaften des Westens bedrohen. Von dieser Bedrohung ist in Perrets Schaffen aber nur indirekt die Rede, insofern nämlich, als die Künstlerin ihr Werk als Fiktion einer gelebten Utopie konzipiert.

Von der Künstlerin Claire Fontaine wird gesagt, sie zeige sich in ihren Werken „als eine wenig originelle Künstlerin, nicht besonders erfindungsreich, dafür aber höchst gebildet“. Sie kenne die Kunstgeschichte und sei eine „Expertin darin, ein bestehendes Werk sehr kenntnisreich in ein anderes zu verwandeln“.6  Trifft diese Charakterisierung nicht auch auf die Künstlerin Mai-Thu Perret zu? Die „Readymade-Künstlerin“ Claire Fontaine gibt es erst seit 2004. Die beiden Künstler, die Claire Fontaine damals aus der Taufe hoben und seither in ihrem Namen sprechen und ausstellen, handeln nach dem bekannten modernen Credo, wonach jeder mehrere sei und Claire Fontaine somit viele.

1964 bat die US-amerikanische Künstlerin Elaine Sturtevant (1924–2014) Andy Warhol darum, ihr das Sieb auszuleihen, mit dem seine Flowers gedruckt worden waren, um damit weiterzuarbeiten und diese Siebdrucke unter ihrem eigenen Namen auszustellen. Gerd de Vries, der 1989 in der von ihm und Paul Maenz in Köln geführten Galerie eine Einzelausstellung mit Sturtevant zeigte, sagte 2004 in einem Interview, sie arbeite durch verschiedene Künstler hindurch, um dem Inneren der Kunst einen Spiegel vorzuhalten. Das Merkwürdige sei allerdings, „dass eine Ausstellung von ihr, die auf den ersten Blick wie eine Gruppenausstellung aussehen mag, gleichzeitig vermittelt, dass zwischen all den heterogenen Werken eine Verbindung besteht, eine Binnenstruktur, ein genetisches Band“.7 Als versuche sie herauszufinden, wie viel Verschiedenes sie machen, wie weit sie ihr System ausweiten kann, ohne den Werkzusammenhang zu gefährden.

I.

Die mit den klassischen Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert einsetzende Erweiterung des Werkbegriffs gab das Thema einer Ausstellung vor, die 2011 im Kunstmuseum Liechtenstein zu sehen und in der auch Mai-Thu Perret vertreten war. Gezeigt wurden in Vaduz Werke von 41 Künstlerinnen und Künstlern, eine offene Schweiz, die an diesem dynamischen, die nationalen Grenzen überwindenden Diskurs der Kunst seit der frühen Moderne und bis in die Gegenwart beteiligt ist. Mit der Einladung Perrets zu der Ausstellung „Beispiel Schweiz“ entstand die Idee, ihre Installation Donna Come Me (2008) aus der Sammlung des Kunstmuseums Liechtenstein kunsthistorisch zu kontextualisieren. Das kuratorische Prinzip der diachronen Präsentation der Werke in „Beispiel Schweiz“ wurde für den Saal der Schweizer Moderne als Aufgabe an Perret übertragen und damit an eine mit eigenen Werken zur Ausstellung eingeladene Künstlerin. Sie beteiligte sich an der Werkauswahl und entwarf das Setting für die Präsentation. Dieses bestand aus einer zweiten, zwei Meter hohen Wand in Form einer Wandmalerei – ein graublauer, monochromer Anstrich –, auf welcher die ausgewählten Gemälde ausgestellt waren. Ihre Installation Donna Come Me (2008) erweiterte Perret um Werke von Sophie Taeuber-Arp, Arbeiten aus dem Kreis der Zürcher Konkreten, John M Armleder, Sylvie Fleury, Valentin Carron sowie Dieter Roth und Thomas Hirschhorn. Ihre Inszenierung der Werke – die eigenen eingeschlossen – ist als Form der Aneignung zu betrachten und als solche kritisierbar, ruft aber auch das Interesse an Fragen der Autorschaft als ein Merkmal ihrer Kunst in Erinnerung.8 Perret unterscheidet nicht zwischen literarischen, künstlerischen und kuratorischen Fragestellungen und Methoden, sondern nutzt diese als Künstlerin. Dies erklärt auch, weshalb Einzelausstellungen von Perret wie diejenigen Sturtevants auf den ersten Blick wie Gruppenausstellungen wirken.9

Die Arbeit Donna Come Me bezieht sich auf den in New York entstandenen Film An Evening of the Book (2007) Perrets, der von Varvara Stepanovas Bühnenbild für ein Agit-Prop-Stück mit dem gleichnamigen Titel angeregt ist.10  Die Puppe, welche in Donna Come Me vor einem bemalten Teppich sitzt, trägt denselben Overall voller Farbflecken, den zuvor die Performerin Fia Backström im Film getragen hatte, während sie ein Stück Stoff zuschnitt, das sie anschliessend an die Wand hängte. Es ist derselbe Overall, den auch Perret einige Monate später überzog, um die an einen Rorschachtest, an Andy Warhol oder, wie die Künstlerin selbst meint, an eine von Yves Kleins Anthropometrien erinnernde Malerei auf dem Teppich zu gestalten, vor dem nun die Puppe sitzt. Die Künstlerin schlüpft nicht in verschiedene Rollen, sondern sie verortet ihre Arbeit an unterschiedlichen Stellen in der Kunstgeschichte, indem sie den Overall von verschiedenen Figuren – jede eine Künstlerin – in unterschiedlichen Zusammenhängen tragen lässt. Perret versteht Donna Come Me als Installation, welche die Frage nach dem Verhältnis von Autor und verdinglichtem Objekt aufwirft und dazu anregt, bildnerische Prozesse zu imaginieren und darüber nachzudenken, zunächst und entschieden aus der Perspektive einer Künstlerin.

II.

Mai-Thu Perret weiss, dass mich ihr (konzeptueller und weiblicher) Blick auf die Moderne interessiert. Als wir begannen, darüber zu sprechen, welche Werke anderer Künstler in den Dialog mit Donna Come Me in die Liechtensteiner Ausstellung einbezogen werden könnten, war bald klar, dass Max Bills Gemälde sechs gleich lange linien (1947) das Thema vorgeben könnte: Bills frühe Leinwand zeigt sechs verschiedenfarbige Linien, welche die Bildfläche wie Fäden durchlaufen, wobei vier der Linien jeweils am Bildrand aufgerollt sind. Diese Beschreibung, die von gewundenen Linien als Fäden spricht und die Komposition damit als Bild versteht, das zurückführt in die Welt der Dinge, ist der Lektüre der Künstlerin geschuldet. In ihrer Auseinandersetzung mit historischen Werken sucht sie nach Spuren für eine erst noch zu schreibende, neue Geschichte der Moderne. Wie die deutsche Künstlerin Rosemarie Trockel interessiert sich Perret für Materialien, Formen und Funktionen, die mit dem (verdrängten) Weiblichen in der historischen Abstraktion in Verbindung stehen. Sie betrachtet die Kunstgeschichte als ihren persönlichen Echoraum, dem sie entnimmt, was ihrer Vorstellung von der Gegenwart abstrakter Sprache in der Malerei, vor allem aber ihrem Empfinden entspricht. In ihrer Auswahl zeigte sie, dass konkrete Kunst, obschon, wie Max Bill es ausdrückte, „mathematischem Denken“ verpflichtet, nicht kalt sein muss. Perret fasziniert an Bills Komposition, die aus einem rationalen Verfahren hervorgegangen ist, die spielerische, dekorative, stoffliche Dimension, die in die Richtung von Sophie Taeuber-Arp (1889–1943) weist, mit der Max Bill (1908–1994) befreundet war.11  1914, bei Kriegsbeginn, kehrte Taeuber-Arp aus München, wo sie an den Lehr- und Versuchsateliers für angewandte und freie Kunst von Wilhelm von Debschitz studierte, in die Schweiz zurück. 1915–1918 besuchte sie die Tanzschule von Rudolph von Laban, in jene Zeit fallen auch ihre Auftritte als Tänzerin im Cabaret Voltaire und in der Galerie Dada in Zürich. Ihre in „Beispiel Schweiz“ ausgestellten Hopi-Kostüme stammen aus jenen Jahren. Das Thema des ebenfalls ausgestellten Gemäldes Equilibre (1931), das dynamische Gleichgewicht, war sowohl ein Leitthema des Neuen Tanzes wie des Konstruktivismus. Max Bill beteiligte sich als Künstler, Architekt, Typograf, Produktdesigner und Hochschullehrer an der Entwicklung dieser Bewegung und publizierte darüber hinaus schon 1936 im Katalog zur Ausstellung „Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik“ im Kunsthaus Zürich einen Text, in dem er erstmals Prinzipien konkreter Gestaltung formulierte. Bill stützte sich dabei auf Theo van Doesburgs 1930 in der Zeitschrift Art Concret erschienene Definition konkreter Kunst.12

Neben Max Bill waren in der von Perret mitkuratierten Ausstellungssektion Camille Graeser, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse aus der ersten Generation der Zürcher Konkreten vertreten. Von Bill waren neben dem Gemälde ein schwarz bis acht weiss (1956) einige seiner Einrichtungsgegenstände zu sehen. Von Camille Graeser (1892–1980) wurden Seidentücher und ein Entwurf aus den 1930er-Jahren ausgestellt, der die Einrichtung des Salons eines Damencoiffeurs zeigt, ausserdem die beiden mit Raum und Bewegung befassten Gemälde Periphere Kontakte (1947) und Dynamische Räume (1953). Verena Loewensberg (1912–1986) war durch ein heiteres Gemälde in hellen Pastelltönen repräsentiert. Mai-Thu Perret behandelte die Bildwerke der Zürcher Konkreten in ihrer Installation wie funktionale Gegenstände. „Das Textile zieht sich wie ein roter Faden oder ein Leitmotiv durch die Auswahl“, erläutert sie, „wobei die kanonischen Praktiken der Zürcher Konkreten und ihres Erbes eher von der Seite her ins Auge gefasst werden. Ein Schal Camille Graesers ist viel mehr als bloss eine Fussnote im Schaffen eines abstrakten Künstlers: Er markiert einen jener Orte, an denen die Beziehung zwischen Kunst und Alltag neu geschrieben wurde, wo ein Künstler, der den Idealen des Bauhauses folgte, in eine eigene Welt der Kunst entfliehen und das Gewebe des Alltagslebens erkunden konnte.“13

In diesem mit Kunst eingerichteten Salon gab es auch Arbeiten von Perrets Künstlerfreunden Armleder, Fleury und Carron. Durch die Auswahl von Thomas Hirschhorns Werk Gold Mic-Mac stellte Perret den ungegenständlichen Gemälden eine Kunstauffassung gegenüber, die sich nicht mit abstrakten Fragestellungen befasst, sondern damit, Kunst, so Hirschhorn, „politisch zu machen“. Den Bogen zu Perrets Utopie The Crystal Frontier, die im Unterschied zu den gesellschaftlichen Utopien früherer Generationen bewusst im Medium der Kunst als Modell im Museum realisiert und zur Debatte gestellt werden will, schlug die Arbeit Grenoble 1788. Hommage an die französische Revolution (1987/88) von Richard Paul Lohse (1902–1988), die dieser in seinem Todesjahr im Auftrag des Französischen Staates malte.

III.

2004 eröffnete Hirschhorn in Paris das „Musée Précaire Albinet“. Das Museum auf Zeit befand sich in Aubervilliers, einem Quartier am Stadtrand, in dem vor allem afrikanische Einwanderer wohnen, ein Stadtteil, der die angestammte Bevölkerung verloren hat und fast niemandem mehr Arbeit bietet. In diesem Stadtteil, in dem Hirschhorn auch selbst lebt und arbeitet, eröffnete er am 20. April 2004 eine Marcel-Duchamp-Ausstellung in einem Museumsprovisorium, das er zusammen mit einem Team aus dem Quartier gebaut hatte. Die Werke stammten aus der Sammlung des Centre Pompidou. Die Ausstellungsarchitektur, die Beschilderung, der Aufbau und die Vermittlung der Arbeit an die Besucher unternahm Hirschhorn zusammen mit Freiwilligen aus dem Quartier, die er während der 18 Monate dauernden Vorbereitung gefunden hatte. Das Museum war acht Wochen lang geöffnet und zeigte in dieser Zeit Ausstellungen von Duchamp, Malewitsch, Mondrian, Dalí, Beuys, Le Corbusier, Warhol und Léger. Es gab stets Originalwerke zu sehen, dazu viel didaktisches Material, das der Künstler und diverse Gäste in Workshops mit den Besuchern diskutierten. Das Erstaunliche an diesem Projekt war natürlich, dass es überhaupt zustande kam: Im Vorfeld des Projekts hätte man darauf gewettet, dass das Centre Pompidou und die Versicherungen niemals Originale in dieses Problemviertel ausleihen würden, in ein Provisorium zudem, das auch den geringsten Anforderungen an Sicherheit und Klima nicht genügte. Hirschhorn sei es gelungen, die „Kunst den Kontrollmechanismen und Beschränkungen des Betriebs zu entreissen, sie energisch zurückzuführen auf ihr utopisches Potenzial“, schrieb der Tages-Anzeiger aus Anlass der Publikation einer Dokumentation zum „Musée Précaire Albinet“ nach Abschluss des Projekts.14  Die Kunst könne, müsse und wolle das Leben verändern, notiert Hirschhorn in einem der zahlreichen Dokumente, die in diesem Buch zur Geschichte dieses Museums abgedruckt sind.15  Seine zeitlich befristete Arbeit ist in allen Elementen ein künstlerisches Projekt, von dem politische und gesellschaftliche Impulse ausgehen können, das er allerdings – anders als dies ein Sozialarbeiter täte – nach Projektende nicht weiter begleitet. Die Arbeiten Hirschhorns nehmen die Form öffentlicher Installationen an, sind aber zugleich auch Performances und Archive, die manchmal im Museumsraum, oft aber in einem Bereich zwischen Ausstellungs- und öffentlichem Raum angesiedelt sind. Es sind Instrumente, die auf bewusst einfache Weise Fragen der Gesellschaft, der Philosophie und Kultur ansprechen und damit immer auch in einem moralischen und erzieherischen Sinne kulturbildend sein wollen. Hirschhorn glaubt an die gesellschaftliche Bedeutung der zeitgenössischen Kunst und passt den Werkbegriff nicht dem Publikum an. Das grosse Publikum braucht keine andere Kunst als das Fachpublikum, sondern eine andere Form der Vermittlung.

Christoph Büchel dagegen, der im Frühjahr 2010 im Rahmen seiner Ausstellung „Bin auf Montage in Wien“ im Untergeschoss der Wiener Secession eine Bar und einen „Raum für Sexkultur“ einrichtete und damit gezielt für Schlagzeilen sorgte, verfolgt eine ironische Strategie, mit der er die Grenzen des politisch und institutionell Möglichen auslotet und damit in erster Linie das Kunstsystem selbst auf seine Belastbarkeit prüft. Büchel überliess die Räume dem „Verein der kontaktfreudigen Nachtschwärmer“, der den Swingerclub „Element6“ betrieb und damit laut Presseinformation „Raum für (nicht kommerzielle) erotische Kontakte“ bieten wollte.16  Tagsüber war der Club als eine Art „Installation“ wie eine Ausstellung zu besichtigen, nachts wurde diese in Betrieb genommen. In Hirschhorns „Musée Précaire“ haben neue Gruppierungen von Besucherinnen und Besuchern Zugang zu bedeutenden Originalwerken der modernen Kunst erhalten. Bekannte Kunstwerke wurden zu Menschen gebracht, die niemals ins Museum gegangen wären. In Wien wurde mit dem Beethoven-Fries (1902) von Gustav Klimt zwar ebenfalls ein bedeutendes Werk der frühen Moderne kontextualisiert – allerdings klischeehaft. Büchel schlägt eine Lektüre des Werks vor, welche die Darstellungen von Nacktheit und Sexualität ins Zentrum rücken und damit an den Pornografie-Verdacht erinnern, der 1902 gegen Klimt erhoben wurde.17  Wer aus der Matratzenlandschaft am Fusse des Frieses und umgeben von üppigem exotischem Dekor zu Klimts Arbeit hinaufblickte, bekam wenig mit vom umfassenden Bildprogramm. Büchel bediente vergnüglich und gekonnt den voyeuristischen Blick.

IV.

Das bringt mich zu Liam Gillick. In einem Interview anlässlich der Biennale von Venedig 2009 sagte der britische Künstler: „Wir erleben derzeit einen grenzenlosen Abbau von Subjektivität, und das ist normal und zudem ein Nebenprodukt der Politik der Identitäten, die uns abnötigt, mehr und mehr Geschichten zu verstehen. Diese Spannung zwischen Differenz und Kollektivität interessiert mich.“18  Eine Art von „dokumentarischer Struktur der Kunst“ auf der einen Seite und eine Art von „Supersubjektivität“ auf der anderen beschreibt er als Ergebnisse dieses Prozesses. Ist es falsch, sich dabei auch an den französischen Künstler Jean Dubuffet zu erinnern und an seine Postulierung einer „Art Brut“, die er sammelte und zugleich im eigenen Schaffen spiegelte?

Neben einer an soziologischen Fragestellungen interessierten Kunst, die auf eine gerechtere Gesellschaftspolitik zielt, gibt es heute viele Einzelpositionen, die untersuchen, wie weit man sich von den Erwartungen an ein originäres Kunstwerk entfernen kann und dennoch glaubwürdig bleibt. Diese Künstler beziehen sich auf historische Vorbilder, wiederholen Formen und überprüfen Methoden, allerdings meistens, ohne auch die programmatischen Grundlagen zu übernehmen. Mai-Thu Perret ist eine dieser Positionen. Die freie Anwendung von eben erst historisch gewordenen Methoden birgt womöglich die Gefahr des Eklektizismus, zugleich aber auch die Chance der Aktualisierung und Neubewertung der Vergangenheit. Zu ihrem Period Room in „Beispiel Schweiz“ resümiert die Künstlerin: „Der Raum ist ein Versuch, etwas über die Versprechen des Geometrischen und der Moderne und deren Beziehung zu einem Bereich zu sagen, der unklarer, vielleicht aber auch vertrauter ist: der Welt von Körper und Seele, und eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie diese zur Sehnsucht nach sauberen Linien und analytischer Klarheit passen und mit dieser Hand in Hand gehen.“19

Erstveröffentlichung in: Roman Kurzmeyer, Existenz und Form. Schriften zur neueren Kunst. Zürich / Berlin / Boston, S. 210–223.

  1. Vgl. „Gespräch mit John Armleder“, in: John M Armleder, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur; Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf; ARC, Musée d’art moderne de la ville de Paris; Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz, Winterthur 1987, S. 63.
  2. Vgl. Mai-Thu Perret, „The Crystal Frontier. A True Life Story“, in: Mai-Thu Perret. Land of Crystal, Zürich 2008, S. 105–149. Eine leicht erweiterte Fassung des Textes findet sich in: Maria Lind (Hg.), Abstraction, London 2013, S. 195–210.
  3. Diedrich Diederichsen, „Trennung–Anhäufung–Inklusion: Fiktion, Dokumentation und Allegorie bei Mai-Thu Perret“, in: Mai-Thu Perret: The Adding Machine, hg. von Madeleine Schuppli, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus, Aarau, Aarau 2011, S. 52f.
  4. Ebd., S. 58f.
  5. Maria Gough, „Kristallene Zukunft“, in: PARKETT, 84, 2008, S. 113f.
  6. „Appassionata. Ein Dialog über Claire Fontaine mit Bernard Blistène und Nicolas Liucci-Goutnikov“, in: Claire Fontaine. Foreigners Everywhere, Ausst.-Kat. Museion Bozen, Köln 2012, S. 30.
  7. „Gerd de Vries, Lena Maculan: Interview“, in: Sturtevant. Catalogue Raisonné 1964–2004. Gemälde, Skulptur, Film und Video, hg. von Lena Maculan, Ausst.-Kat. Museum Moderner Kunst, Frankfurt a. M., Bd. 2, Ostfildern 2004, S. 30.
  8. Im Dezember 2012 reiste Mai-Thu Perret mit fünf Studierenden des „Institut curatorial de la Head-Genève“ in den US-amerikanischen Südwesten. Sie besuchten dabei auch die kleine texanische Stadt Marfa, die durch die Chinati Foundation von Donald Judd bekannt geworden ist. In Marfa hatte sich der Künstler in den 1970er-Jahren niedergelassen, zahlreiche Gebäude erworben, erneuert und einen Ort für die Ausstellung seiner eigenen Werke und jener seiner Künstlerfreunde geschaffen. Judd wurde mit den Jahren auch zu einem für die Stadt wichtigen Arbeitgeber. In der Ausstellung „Electric Fields“ (31.5.–6.7.2013) zeigten die Studierenden Werke, die in der Auseinandersetzung mit dieser Reise und insbesondere mit Marfa entstanden waren. Zu sehen war auch eine Gemeinschaftsarbeit von Mai-Thu Perret und Olivier Mosset, der die Gruppe auf ihrer Reise eine Zeit lang begleitet hatte. Es handelt sich um einen freien Nachbau eines Objekts von Donald Judd.
  9. Fabrice Stroun, „What art looks like, circa 1997 – tomorrow, as seen through the eyes of someone else”, in: Perret 2008 (wie Anm. 2), S. 49.
  10. Julien Fronsacq, „Medium – Botschaft“, in: PARKETT, 84, 2008, S. 129.
  11. Dazu Stephan Kunz (Hg.), Sophie Taeuber-Arp (1889–1943), Aargauer Kunsthaus, Aarau 2010 (= Schriften zur Aargauischen Kunstsammlung). Zuletzt: Sophie Taeuber-Arp – Heute ist Morgen, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus, Aarau; Kunsthalle Bielefeld, Zürich 2014. Die Ausstellung betonte die Bedeutung der Transdisziplinarität für die Entwicklung der Abstraktion im frühen 20. Jahrhundert.
  12. In seiner Theorie betont er, dass die konkrete Gestaltung „auf grund ihrer ureigenen mittel und gesetzmässigkeiten – ohne äusserliche anlehnung an naturerscheinungen oder deren transformierung, also nicht durch abstraktion“ entsteht. Zit. nach Hans Jörg Glattfelder, „Konstanz und Wandlung des Begriffs ,konkret‘ bei Max Bill“, in: Max Bill. Aspekte seines Werks, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur und Gewerbemuseum Winterthur, Sulgen/Zürich 2008, S. 16–25. Vgl. dazu auch Roman Kurzmeyer, „Camille Graeser. Wie konzeptuell ist konkrete Malerei?“, in: Camille Graeser, Ausst.-Kat. Galerie von Bartha, Basel; Camille Graeser-Stiftung, Zürich, Zürich 2014, S. 9–18.
  13. Mai-Thu Perret, „Hand in Hand mit meiner Schwester“, in: Beispiel Schweiz. Entgrenzungen und Passagen als Kunst, hg. von Roman Kurzmeyer und Friedemann Malsch, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Ostfildern 2011, S. 197.
  14. Jacqueline Hénard, „Was Hirschhorn in die Banlieue bringt. Der Künstler hatte 2004 in Aubervilliers ein Museum auf Zeit errichtet. Was ist von dem kühnen Experiment geblieben?“, in: Tages-Anzeiger, 6.2.2006, S. 37.
  15. Vgl. Thomas Hirschhorn. Musée Précaire Albinet. Quartier du Landy, Aubervilliers, Ausst.-Kat. Les Laboratoires d’Aubervilliers, Paris 2005, o.p.
  16. Pressemitteilung des „Vereins der kontaktfreudigen Nachtschwärmer“ zum „Bar-Club Element6“ (20.2.–18.4.2010) in der Secession Wien.
  17. Barbara Sternthal, Gustav Klimt 1862–1918. Mythos und Wahrheit, Wien 2006, S. 75–81.
  18. „Liam Gillick. Die uneingepasste Küche: Ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks“, in: Kunstforum International, 198, 2009, S. 175–181.
  19. Perret 2011 (wie Anm. 13), S. 200.

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