Seit Walter Benjamin in seinem 1936 in Paris verfassten Reproduktionsaufsatz zwischen „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ des Kunstwerks unterschieden und die Bezeichnung „Kunst“ zur Disposition gestellt hat,1 stand im Grunde fest, dass sich die Aufmerksamkeit auf die Verbreitung von Kunst, also einerseits auf die Möglichkeiten der technischen Reproduktion von Kunstwerken und andererseits auf deren Ausstellung verlagert hatte. Eine breite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ausstellung als Medium setzte dennoch erst in den 1990er-Jahren ein, angeregt durch die zeitgenössische Kunst, deren Werke nun vermehrt von Künstlern für die Präsentation im Museum geschaffen wurden, und den hohen Stellenwert, den Ausstellungen, wie sich rückblickend erwiesen hat, im 20. Jahrhundert gewannen2 – selbst Ausstellungen, die der politischen Propaganda dienten, wie beispielsweise die von den Nationalsozialisten organisierte Wanderausstellung Entartete Kunst, die 1937 in München erstmals zu sehen war und das vorläufige Ende avantgardistischer Kunst in Deutschland besiegelte. Heute verbindet man Ausstellungen vor allem mit der Moderne und vergisst dabei leicht, dass während des gesamten „Zeitalters der Kunst“, um einen Ausdruck von Hans Belting aufzunehmen, mit dem dieser den Zeitraum von der Renaissance bis ins späte 20. Jahrhundert bezeichnet, Orte geschaffen wurden, um Kunstwerke für die Wahrnehmung zu inszenieren.3 Harald Szeemann hat seit den frühen 1970er-Jahren in seinen Schriften und Interviews immer wieder auf sein Museum der Obsessionen hingewiesen und seinen Ausstellungen darin einen Platz eingeräumt, obschon es sich nicht um einen physischen Ort handelte. Szeemann war nicht nur ein von vielen Seiten bewunderter Impresario, der sich auch in dieser Rolle durchaus gefiel, ein Entdecker und Förderer neuer Künstler, der sich ohne Berührungsangst im schnell wachsenden Kunstmarkt bewegte, die öffentliche Resonanz suchte und die vielen seit den 1970er-Jahren neu eröffneten Institutionen mit Ideen und Ausstellungen versorgte, sondern auch ein spekulativer, humanistisch gebildeter und neugieriger Kopf, der Kunstwerke als Ausdrucksträger einer lebendigen Kultur verstand.

Der „Curatorial Turn“

Die Expertise von Kunstkritikern und Kunsthistorikern trat in der Nachkriegskultur in den Hintergrund, der Ereignischarakter einer Ausstellung und vor allem deren Kurator wurden für die öffentliche Wahrnehmung und die Bedeutung von Kunst wichtiger. In der Kunsttheorie bezeichnet man diese Entwicklung, die sich im ausgehenden 20. Jahrhundert erheblich beschleunigte, als „Curatorial Turn“.4 Feststellbar waren erste Anzeichen der Veränderung im Selbstverständnis der Museen indessen schon seit vielen Jahrzehnten. Ernst H. Gombrich, 1959 bis 1976 Direktor des Londoner Warburg Institute, hatte den zunehmenden Druck auf die Museen, Wechselausstellungen mehr Raum und Entfaltungsmöglichkeit zu gewähren, schon in den frühen 1960er-Jahren beobachtet und in einem 1964 publizierten Aufsatz kritisiert.5 Der äussere Anlass für seine Stellungnahme bildeten die Entscheidungen des damaligen französischen Staatsministers für Kultur André Malraux, die Venus von Milo aus dem Louvre zur Eröffnung der Olympischen Spiele nach Tokio zu senden und jene Papst Pauls VI., die vermutlich im Jahr 1499 vollendete Pièta aus dem Petersdom, für dessen Vorgängerbau die Skulptur bei Michelangelo in Auftrag gegeben worden war, nach New York an die Weltausstellung auszuleihen. Es war das erste und bislang einzige Mal, dass die Skulptur den Vatikan verlassen hat. Gombrichs Kritik richtete sich nicht gegen das Format der Wechselausstellung an sich, sondern gegen die Tendenz, Museen auf Kosten der eigenen Sammlung in Ausstellungshäuser zu verwandeln und damit der zeitlich befristeten, thematischen Ausstellung mehr Bedeutung zuzusprechen als der statischen, permanenten Präsentation des eigenen Werkbestandes. Gombrichs Überzeugung nach finden Kulturgüter in Museen eine Art zweite Heimat, nachdem sie ihren ursprünglichen Bestimmungsort in der Welt verloren haben. Er spricht vom Museum als einem Ruheort („resting-place“) und fordert zugleich, Kunstwerke, die man noch an ihrem originären Standort ausserhalb des Museums sehen und erfahren kann, unter besonderen Schutz zu stellen, weil sie uns Anteil nehmen lassen an den historisch gewachsenen Strukturen und der Geschichte unseres Lebensraums. 1989 wurde Gombrich in einem Interview mit seiner immer wieder geäusserten Kritik am Kunstbetrieb konfrontiert und um eine weitere Stellungnahme gebeten. Er bekräftigte nicht nur seine frühere Position, sondern thematisierte auch das Nichtverstehen im Museum als wertvolle Erfahrung von Kunst.6  Wie viele Menschen, fragte er, wissen, was insbesondere ein älteres Gemälde wirklich ist oder war? Er selbst sei sich nicht sicher, ob er es wisse. Diese (berechtigte) Skepsis, welche die Ontologie des Kunstwerks betrifft, war im damaligen Umfeld recht ungewöhnlich, um nicht zu sagen unzeitgemäss. Eine Einladung des Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, eine Ausstellung aus Beständen der Sammlung zu kuratieren – wie dies vor ihm Harald Szeemann getan hatte, auf dessen Ausstellung a-Historische klanken / a-Historical soundings (1988) er im Verlauf des Interviews beiläufig zu sprechen kommt –, hatte er dankend abgelehnt. Eine Ausstellung zu machen, so Gombrich im Gespräch, habe er noch nie versucht, dennoch glaube er, er sei besser im Schreiben von Büchern.

Heute repräsentieren Kuratoren jene Strukturen, an deren Sichtbarmachung und Entzauberung Künstler mit ihren Werken und Ausstellungsmacher der Generation von Szeemann mit ihren Ausstellungen seit den 1960er-Jahren beteiligt waren. Diese Entwicklung war 1969, als Szeemann seine Agentur für geistige Gastarbeit gründete, nicht absehbar. Wie auf einen Schlag veränderte sich mit dem Curatorial Turn nicht nur die Auffassung davon, was eine Ausstellung ist und wer sie macht, es änderten sich auch die Spielregeln im künstlerischen Feld insgesamt. Kuratoren hatten nun nicht nur ihre eigene Auffassung davon, wie eine Ausstellung auszusehen habe, sondern auch davon, wie deren Themen zu vermitteln seien und welche Aufgabe dem Ausstellungskatalog dabei zukomme. Der Curatorial Turn veränderte also auch das Nachdenken und das Schreiben über Kunst. Die reichlich naive Vorstellung, der Kurator sei ein freier, seinen eigenen Ideen verpflichteter, nomadischer Macher, der zu beinahe allem befähigt sei, mochte als Ideal für Pioniere wie Szeemann, Seth Siegelaub, Walter Hopps, Lucy Lippard oder Kasper König vielleicht noch Geltung haben, für das gegenwärtige, postkritische, durch den Kunstmarkt strukturierte und angetriebene Umfeld trifft sie, wie David Levi Strauss 2005 in seinem Nachruf auf Szeemann und Hopps schreibt, sicherlich nicht mehr zu.7

Verzeitlichung der Ausstellung

Was aber folgt auf den Curatorial Turn? Eine mögliche Antwort habe ich im vorausgehenden Kapitel schon gegeben. Nicht an die Kuratoren richtete ich mich mit meinen Ausführungen, sondern an die Künstler. Vielleicht werde, schrieb ich vorsichtig, die Bedeutung von Ausstellungen für die gesellschaftliche Erneuerung immer noch unterschätzt. Künstler sollten den bildnerischen Prozess und die Formfindung in die Ausstellung hineintragen und die Ausstellung als Medium der Kunst (und nicht der Vermittlung) handhaben. Neuartige, erst noch zu entdeckende und zu erprobende Ausstellungsformate, welche aus dem künstlerischen Handeln (und nicht aus einem kuratorischen Verfahren) heraus zu entwickeln wären, würden – wie einst die von Künstlern wie Marcel Broodthaers oder Marcel Duchamp als Kunstwerk konzipierten fiktiven Museen8 – zu Werkformen und wären ein genuiner Beitrag zu einer zukünftigen Ästhetik der künstlerischen Arbeit. Es gilt somit, die Fixierung auf den Kurator zu lösen und wieder vermehrt auf neuartige künstlerische Prozesse zu achten, in denen die Ausstellung als Medium neu konfiguriert werden könnte.

Man kann die Frage aber auch anders formulieren: Gibt es vielleicht auch ein Zeitalter nach der Ausstellung, und was würde dies für die Kunst bedeuten? Es geht nicht um einen Ausblick in eine ferne Zukunft, sondern um eine beschreibende Analyse der Gegenwart, im vorliegenden Beitrag aus der spezifischen Optik eines in Westeuropa aufgewachsenen und sozialisierten Autors. Die Ergebnisse dieser Analyse werden in einer globalisierten Kunstwelt selbstredend sehr unterschiedlich ausfallen. Ich erinnere an die documenta im Jahr 2017, die erstmals an zwei Orten, Kassel und Athen, stattfand, und unter dem Titel „Learning from Athens“ angekündigt war, ihr Publikum aber dazu aufforderte, einen Prozess des Verlernens („Unlearning“) zu beginnen. Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der documenta 14 und zuvor Direktor und Kurator der Kunsthalle Basel, fasst diese Aufforderung in die Worte: „Die Bewegung der documenta nach Athen, durch die wir verlernen wollen, was wir wissen, statt den Bewohnern der Stadt Lektionen zu erteilen, soll einen Möglichkeitsraum eröffnen. Die alte Welt basiert auf Begriffen der Zugehörigkeit, der Identität und der Verwurzelung. Unsere stets neue Welt wird eine Welt der radikalen Subjektivitäten sein.“9 Und weiter heisst es in seinem Essay zum Format der Ausstellung: „Die klassische Einheit von Zeit, Raum und Handlung einer Ausstellung wird damit fundamental infrage gestellt: Wiederholung und Wiederaufnahme blitzen auf und unterlaufen Erwartungen eines einzigen Anfangs und eines endgültigen Endes. Indem sie den Raum und die Zeit des Kontinuums einer einzelnen Ausstellung in zwei Städten über eine gewisse Zeitdauer öffnet sowie mit einer Vielzahl von teilnehmenden Akteur_innen, die das ausmachen, was wir als die öffentliche Dimension des Projekts bezeichnet haben, weit vor dem regulären Eröffnungsdatum beginnt, besteht die documenta 14 aus ihrer Entstehung, ihrer Erfahrung, ihrer Diskussion und ihren möglichen Fortsetzungen.“10 Die Ausstellung wird als „Kontinuum“ aufgefasst, eine Idee, welche die Kuratoren, wie mir scheint, aus der aktuellsten Kunst übernommen haben, und die der französische Künstler Pierre Huyghe als „Verzeitlichung der Ausstellung“ bezeichnet. Huyghe selber bezieht sich wiederum auf Robert Smithson und dessen „Site/Non-Site-Dialektik“, wenn er 2011 in einem Interview mit Marie-France Rafael von der „Programmierung und Rhythmik“ einer Ausstellung als zentrales Anliegen der eigenen Arbeit spricht und dabei „ihre Präsentation oder ihr Verschwinden, ihr Zögern, ihre fragile Existenz, ihre Weigerung, sich zu fixieren“ thematisiert.11 Weiter äussert Huyghe in jenem Gespräch, dass ihn im Unterschied zu John Cage, der auf „natürliche Zeiten“ aufbaue, „kulturell geschaffene Zeitlichkeiten“ interessierten. Nicht-Orte sind die Folge von „Dezentrierung“, schreibt Marc Augé, französischer Ethnologe und ehemaliger Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts Paris.12 „Eine Verlagerung findet statt“, sagt Huyghe, „in dieser Verlagerung entspricht der Verlust einer neuen Situation.“ Diese Methode verbindet den künstlerischen Prozess und die Ausstellungsgestaltung. Für seine Ausstellung im Centre Georges Pompidou in Paris 2013 übernahm und bespielte Huyghe bewusst die Wände der vorangegangenen Ausstellung von Mike Kelley. Im folgenden Jahr, nun unter anderen institutionellen und räumlichen Bedingungen, wurde diese für Paris gewählte Präsentationsform der Werke auf Stellwänden, die zuvor für eine Ausstellung von Louise Lawler gedient hatten, in Köln nachgebaut. Die Schau war in dieser Konstellation und dem kopierten Display danach in Los Angeles erneut zu sehen. Mit seiner künstlerischen Haltung reiht sich Huyghe in eine lange Tradition ein, die bis weit ins frühe 20. Jahrhundert zurückreicht, zu den von Duchamp gestalteten Ausstellungen für die Surrealisten etwa, der aber auch viele weitere einflussreiche Künstler angehören. Zu nennen sind hier vor allem Michael Asher, Daniel Buren, Robert Morris, aber auch Jean Tinguely. Eine besondere Form der Verzeitlichung seines eigenen Schaffens in einer Ausstellung wählte der italienische Künstler Mario Merz, als er auf Einladung von Harald Szeemann 1985 im Kunsthaus Zürich seine Città Irreale baute und dazu die aus privaten und öffentlichen Sammlungen stammenden „Iglus“ in ihre Bauteile zerlegte und für die Bedürfnisse der Installation vor Ort neu zusammenstellte.

Die Einheit von Zeit, Raum und Handlung einer Ausstellung aufzubrechen und ein Kontinuum zu schaffen, wie dies Adam Szymczyk fordert, ist nur eine Methode, um die Ausstellung als Medium zu verzeitlichen. Eine andere Form ist der permanente „Period Room“, da er die Einheit von Raum und Zeit idealtypisch darstellt und erfahrbar macht. Bekannte Beispiele sind das Sir John Soane’s Museum in London, die Barnes Collection in Philadelphia oder das Pariser Atelier von Constantin Brâncuși, das als Rekonstruktion vor dem Centre Pompidou steht. Die Bestimmung der Chinati Foundation in Marfa (Texas) liegt entsprechend der Verfügung des amerikanischen Künstlers Donald Judd darin, dass das Gelände durch die von ihm für Marfa seit den 1970er-Jahren entwickelten Kunstprojekte, die Werkauswahl, die Präsentation und nicht zuletzt das architektonische und landschaftliche Umfeld zum Zeugen der Kunstauffassung einer bestimmten historischen Zeit werde und damit in unserer wechselvollen Epoche als Massstab für das Verständnis dieser Kunst diene, die an vielen anderen Orten unter jeweils unterschiedlichen Bedingungen ebenfalls ausgestellt wird.13

Das Zeigen von Kunst wurde im späten 20. Jahrhundert mehr und mehr als Aufgabe verstanden, für welche sich die kuratierte Wechselausstellung als Medium am besten zu eignen schien. Die kuratorische Praxis, wie sie Szeemann nicht nur entwickelt und ausgeübt, sondern auch propagiert hat, umfasste tatsächlich jeden Aspekt der Ausstellung, von der Konzeption über die Inszenierung bis hin zur Vermittlung. Wie Gombrich schon in den 1960er-Jahren erkannte, veränderten sich damit aber auch die Erwartungen an die Museen fundamental. Das Nachdenken über das Zeigen von Kunst sollte somit nicht nur die Ausstellung als Medium und dessen Gestaltung durch Kuratoren oder Ausstellungsmacher umfassen, sondern auch die Museen selbst, deren eigentliche Aufgabe es war und vielleicht immer noch sein sollte, Kunstwerke zu bewahren.

Kontinuum und Meta-Museum

Wie komplex und in sich widersprüchlich das Museum nach dem „Curatorial Turn“ zu denken wäre, falls es ein Ort der Kunst bleiben soll, lässt sich in den Schriften des Künstlers Goran Djordjević nachlesen, die er seit vielen Jahren unter dem Pseudonym Walter Benjamin publiziert.14 Sein Beispiel zeigt, dass die radikale Veränderung des Kunstwerkbegriffs der westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts für die Bestimmung dessen, was ein Kunstmuseum sein könnte oder sollte, nicht ohne Folgen blieb.15 In seinen Schriften gibt Djordjević sich als Double des deutschen Philosophen und Kunsttheoretikers Walter Benjamin aus, unter diesem Namen arbeitet und spricht er seit 1986 über Kunst, Museen, Originalität und Kunstgeschichte. Goran Djordjević arbeitet mit unterschiedlichen Aneignungsstrategien, seine Aufmerksamkeit gilt dabei stets Fragen, die mit der Historizität der Kunstgeschichte zusammenhängen. So kündigte er beispielsweise in Kunstzeitschriften Vorträge Walter Benjamins über Piet Mondrian an, die er selbst in dessen Rolle hielt, veröffentlichte unter dem Namen Kasimir Malewitsch 1986 einen Artikel über die „Letzte Futuristische Ausstellung“ in der Zeitschrift Art in America, malte, ebenfalls 1986, Kunstwerke, welche 1913 in der legendären Armory Show in New York zu sehen waren, und stellte 1993 den grossbürgerlichen Pariser Salon de Fleurus der Geschwister Stein neu zusammen, um die Installation als Meta-Period-Room an der Spring Street in New York in einer kleinen, feuchten Erdgeschosswohnung zu zeigen.16 An Stelle der von der Stadt Hagen 1922 an das Folkwang Museum Essen verkauften Sammlung von Karl Ernst Osthaus besitzt das Osthaus Museum Hagen seit 1995 die von Djordjević geschaffene Rauminstallation Moderne Kunst aus dem Museum Folkwang, welche Hauptwerke aus dem vormaligen Museum Folkwang Hagen und Innenansichten des Museums dokumentiert und als Dauerleihgabe der «Werner Richard – Dr. Carl Dörken-Stiftung» ans Museum kam.17 Diesen sehr unterschiedlichen frühen Arbeiten, denen leicht weitere hinzugefügt werden könnten, ist gemeinsam, dass sie in unserer horizontal organisierten Informationsgesellschaft historische Tiefe einfordern und damit die Diskussion um den Ort der Kunst in unserer Gesellschaft neue Impulse geben können.

Goran Djordjević alias Walter Benjamin kennt die Moderne und betrachtet sie mit den Augen eines Ethnologen. In seinem künstlerischen Schaffen wiederholt, kopiert und befragt er Werke und Ereignisse der westlichen Moderne.18 Obschon die Geschichte der Moderne längst abgeschlossen erscheint, vermag kaum jemand mit Sicherheit Auskunft über deren Formierungsprozess zu geben.19 Die Kunstgeschichte ist geschrieben, erscheint aber mehr und mehr ungreifbar. Wissen wir, um das Statement von Gombrich auf die jüngere Vergangenheit zu beziehen, was ein Werk der Moderne wirklich ist oder war? Die wachsende Unsicherheit der Akteure interessiert und nutzt Benjamin für seine Meta-Kunst. Als im 18. Jahrhundert die ersten öffentlichen Kunstmuseen gegründet wurden, verwandelten sich die damals in die Sammlungen integrierten Artefakte in Kunst. All jene Werke, die aus heiligen Orten entfernt worden waren und ihre sakrale Bestimmung eingebüsst hatten, um fortan als Kunstwerke in Museen ausgestellt zu werden, haben bis heute zwei Identitäten, eine als Kultgegenstand und eine als Kunstwerk. Die in den vergangenen zweihundert Jahren entstandenen und in die Sammlungen der Kunstmuseen gelangten Objekte sind Djordjević/Benjamins Ansicht nach die einzigen genuinen Werke der Kunst und werden als solche auch ausgestellt, wahrgenommen und interpretiert.20 Kunst ist für ihn somit keine universelle Kategorie, sondern eine Erfindung der westlichen Kultur, genauso wie das Kunstmuseum, das in seiner heutigen Form erst seit der Französischen Revolution existiert. Benjamin kann sich vorstellen, dass Kunstwerke in Zukunft wieder als Artefakte wahrgenommen werden, die während des Zeitalters der Kunst als Kunstwerk galten. Diese Werke können unterschiedliche Rollen in unterschiedlichen Geschichten spielen. Eine dieser Rollen ist diejenige, im Kunstmuseum als Werk der Kunst wahrgenommen zu werden. Aus einem Artefakt wird ein Kunstwerk, wenn es eine bestimmte Rolle innerhalb des Kunstkontexts („art world“) spielt.21 Denke man über die Zukunft des konventionellen Museums nach, das die Geschichte der Kunst mit Originalwerken dokumentiere, so Djordjević/Benjamin weiter, sei zwischen Museen zu unterscheiden, welche sich – wie der Louvre in Paris oder das Metropolitan Museum in New York – mit allen Epochen der Geschichte befassen und jenen, die lediglich die Moderne oder die Gegenwart darstellen. Museen, die sich wie das Museum of Modern Art in ihrer Sammlungstätigkeit auf die Moderne beschränkt haben, sollten als Kunstmuseen erhalten werden, damit es auch in ferner Zukunft möglich wäre zu erfahren, was eine frühere Epoche unter einem Kunstmuseum verstand. Wie Kirchen heute sowohl von Gläubigen als auch von Kunstliebhabern oder von Touristen besucht werden, würden diese Museen ausser von jenen, die sich für die Vergangenheit interessieren oder sich einfach auch nur die Zeit vertreiben wollten, auch weiterhin von denen aufgesucht werden, die an Kunst glauben. Alle anderen Museen werden sich in Museen über Kunst verwandeln, die wie ethnografische Museen Auskunft geben über kulturelle Phänomene einer bestimmten Epoche und Gesellschaft. Es werde auch Museen geben, konstatiert Benjamin, die neu produzierte Werke wie seine eigenen zeigen – Meta-Kunst –, die wie Kunst aussehen, aber Artefakte über Kunst sind. Diese Arbeiten werden nicht mehr nur wie heute noch für Kunstmuseen, sondern auch für Orte entstehen, die in keiner Weise mehr an ein Museum erinnern. Eine Kopie ist im Verständnis von Benjamin ein Meta-Original. Sie dient der Analyse des Originals (nicht der Täuschung) und ist Ergebnis einer Kunst, die sich als eine „spezifische Reflexionspraxis“ versteht.22 Im Zeitalter nach der Ausstellung, das womöglich schon begonnen hat, wird man weniger über Ausstellungen und Kuratoren nachdenken, dafür umso mehr über das Museum der Zukunft und dessen Bedeutung für die Tradierung und Transformation unseres Begriffs von Kunst.

Erstveröffentlichung in: Roman Kurzmeyer, Zeit des Zeigens. Harald Szeemann, Ausstellungsmacher, Zürich / Berlin / Bosten 2019, S. 218–230.

  1. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1963.
  2. Vgl. dazu Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler: Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997.
  3. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1991.
  4. Paul O’Neill, „The Curatorial Turn: From Practice to Discourse (2007)“, in: Elena Filipovic, Marieke van Hal und Solveig Øvstebø (Hg.), The Biennial Reader, Bergen/Ostfildern 2010, S. 241–259.
  5. Ernst H. Gombrich, „Exhibitionship“, in: The Atlantic Monthly, Februar 1964, S. 77–78.
  6. Ders., „L’Exposition imaginaire – Memory and the work of art“, in: L’Exposition imaginaire. The art of exhibiting in the eighties, Den Haag 1989, S. 204–212.
  7. David Levi Strauss, „The Bias of the World: Curating After Szeemann & Hopps“, in: The Brooklyn Rail. Critical Perspectives on Arts, Politics, and Culture, Dezember 2006, Wiederabdruck in: Steven Rand und Heather Kouris (Hg.), Cautionary Tales. Critical Curating, New York 2007, S. 15–25.
  8. Einen Überblick bietet AA Bronson und Peggy Gale (Hg.), Museums by Artists, Toronto 1983.
  9. Adam Szymczyk, „14: Iterabilität und Andersheit: Von Athen aus lernen und agieren“, in: Der documenta 14 Reader, hg. von Quinn Latimer und Adam Szymczyk, München/London/New York 2017, S. 17–42.
  10. Ebd., S. 28.
  11. Vgl. Marie-France Rafael, Pierre Huyghe: „on site“. Atelierbesuch, Berlin 2012, S. 25.
  12. Marc Augé, Nicht-Orte, München 2010, S. 123.
  13. Vgl. die website www.chinati.org (aufgerufen am 9.6.2018).
  14. Walter Benjamin, Recent Writings, Vancouver/Los Angeles 2013.
  15. Peter Weibel dokumentierte das Schaffen von Djordjević 1994 in seinem für die Wirkungsgeschichte der Kunst der 1990er-Jahre wichtigen Sammelband Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, Köln 1994, S. 409–420. Seither sind verschiedene Publikationen unter der Regie des Künstlers erschienen. Die Fiktionalisierung der Kunstgeschichte der westlichen Moderne erweist sich dabei als Arbeit an einem vertieften Verständnis dieser Epoche und somit als bedeutender Beitrag zum Verständnis der Entstehungsgeschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts. Vgl. Collection of drawings of an art amateur made on his travels through a mysterious and faraway land, Ausst.-Kat. Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen, Salon de Fleurus, New York, Hagen 1999; Marina Gržinić (Hg.), The Last Futurist Show, Ljubljana 2001; What is modern art? Museum of American Art, hg. von Inke Arns und Walter Benjamin, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Bethanien, Berlin, 2006 (= introductory series to the modern art 1–2); International Exhibition of Modern Art. Association of American Painters and Sculptors, New York 2013, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art, Belgrad 2013; Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst, Dresden 2014; Les fleurs américaines. Autobiographie d’Alice B. Toklas. Musée d’art moderne. 50 ans d’art au Etats-Unis, Paris 2014.
  16. Ich danke Goran Djordjević für das Gespräch in seinem Salon de Fleurus in New York am 6. November 2004.
  17. Vgl. Michael Fehr (Hg.), Open Box. Künstlerische und wissenschaftliche Reflexionen des Museumsbegriffs (= Museum der Museen. Schriftenreihe des Karl Ernst Osthaus-Museums, Band 5), Köln 1998, S. 37–40.
  18. Vgl. dazu auch von Arthur C. Danto, Das Fortleben der Kunst, München 2000, sowie das Werk der US-amerikanischen Künstlerin Sturtevant.
  19. Vgl. dazu Hans Belting, „Bilderstreit: ein Streit um die Moderne“, in: Ders., Bilderstreit. Widerspruch, Einheit und Fragment in der Kunst seit 1960, Köln 1989, S. 15–28.
  20. Vgl. Hans Belting, „Meisterwerk“, in: Ders., Die Welt der Encyclopédie, Frankfurt a. M. 2001, S. 253–256.
  21. Benjamin 2013 (wie Anm. 14), S. 193–210.
  22. Georg W. Bertram, „Was ist Kunst? Skizze zu einer Ontologie der Kunst“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 62/1, 2017, S. 77–94.

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